Ankunft

Du erreichst uns am Mittag, kleine Tochter, wiegst nur sechs Pfund.
Sonya legt dich aufs Klavier und spielt ein Schlaflied, das niemand hört.
Im Kinderzimmer zischelt die Stille wie von einem Streichholz, das man
ins Wasser schnippt.

Schlaflied

Regen und Wind
Tochterkind

Schnee und Äste schützen dich
weißgekalkte Wände

und die Hände unserer Nachbarn alle
oh mein Kind aus dem April

kleine Welt von nur
sechs Pfund

mein weißes Haar
erleuchtet deinen Schlaf.

Hanser Verlag, 104 Seiten, € 22,-
Aus dem Englischen übersetzt von Anja Kampmann

„Was ist Schweigen?“, fragt der gebürtige Ukrainer Ilya Kaminsky in dieser gefeierten Parabel. Als ein tauber Junge, der einem Puppenspiel zusieht, von Soldaten erschossen wird, leisten die Bewohner der okkupierten Stadt Vasenka Widerstand: Sie stellen sich taub und koordinieren ihren Protest in der Gebärdensprache. Unter den Oppositionellen sind auch Alfonso und Sonya, die ein Kind erwarten. Doch als sie es wegen der Repressalien nicht aufziehen können, wird es von der Leiterin des Puppentheaters versorgt. Vasenka ist ein Kriegsschauplatz, aber auch ein Ort, an dem die Menschen sich Zeichen der Solidarität geben. Ein Buch von großer politischer Relevanz und eine einzigartige Reflexion über Menschlichkeit in finsteren Zeiten.

Ilya Kaminsky, geboren 1977 in der ehemaligen Sowjetunion, wanderte 1993 in die USA aus. Er ist ein ukrainisch-russisch-jüdisch-amerikanischer Dichter, Kritiker, Übersetzer und Lyrik-Professor. Bekannt wurde er durch die Gedichtsammlungen „Tanzen in Odessa“ und „Republik der Taubheit“, für die er zahlreiche Auszeichnungen erhielt. Sein Werk wurde bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt.

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