Die schlafende Frau
(nach Paul Valéry)

Welche abscheulichen Geheimnisse brennen in dir,
derweil du vorgibst, Blume zu sein?
Welche sonderbaren Nährstoffe wärmen dich,
und lassen dich als schlafende Frau erscheinen?

Dein Atem, deine Träume, deine Stille
sind nicht genug – du mußt noch ein Schniefen hinzufügen,
denn jene schwarze Welle schiebt sich riesig auf,
bevor sie auf der Brust eines Feindes bricht.

Oh Schläferin, abgelegt zwischen diesen Schatten
und den Ausrangierten, dein Schlaf wurde
zum Geschenk, das sich ausstreckt wie ein Reh
unter Trauben an einem Weinstock.

Obschon also deine Seele in der Hölle sein mag,
bleibt dein Körper hier mit seinem weichen Bauch,
über dem ein bewegungsloser Arm hängt,
wachsam, und meine Augen sind offen.

Matthew Sweeney

Der Schatten der Eule

Aus dem Englischen übersetzt von Jan Wagner. Englisch / Deutsch. Hanser Berlin, 192 Seiten, € 24,-

Vom ersten Vers dieses Bandes an ist klar: Hier schreibt ein Dichter um sein Leben. Mit seiner Gabe, auf kleinstem Raum haarsträubende Geschichten zu erzählen und Gegenwelten zu erschaffen, hält sich Matthew Sweeney, der 2018 verstarb, poetisch den Tod vom Leib, indem er ihn bei den Hörnern packt. Feindselige Eulen, unsichtbare Feinde sind ihm dicht auf den Versen, und der Mann auf der Flucht muss immer neue Höhen seines Witzes und Einfallsreichtums erreichen, um ihnen zu entkommen. Mit diesem letzten Band verabschiedet sich Sweeney als einer der bedeutendsten Lyriker Irlands. In ihrer ungewöhnlichen Kraft und bleibenden Schönheit sind diese Gedichte ein Triumph über den Tod.

Matthew Sweeney wurde 1952 in Donegal, Irland, geboren und starb 2018 in Cork. Er war einer der bedeutendsten irischen Lyriker seiner Zeit. Zuletzt erschienen die Gedichtbände „Horse Music“ (2013) und „Inquisition Lane“ (2015). Auf Deutsch liegen von ihm die Auswahlbände „Rosa Milch“ (2008) und „Hund und Mond“ (2017) vor, beide in der Übersetzung von Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt in Berlin. 2001 erschien sein erster Gedichtband „Probebohrung im Himmel“. Es folgten „Guerickes Sperling“ (2004), „Achtzehn Pasteten“ (2007), „Australien“ (2010), „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“ (2012) und der Sammelband „Selbstporträt mit Bienenschwarm“ (2016). Zuletzt erschien der Essayband „Der verschlossene Raum“ (2017). Für seinen Gedichtband „Regentonnenvariationen“ (2014) gewann er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse, 2017 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

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