Nachmittage und frühe Abende  

Die schönen goldenen Tage, als du bald sterben solltest,
dich aber noch auf zufällige Unterhaltungen mit Fremden einlassen konntest,
zufällig, doch auch gewollt, so dass Eindrücke von der Welt
noch entstanden und dich veränderten,
und die Stadt von purem Glanz war, nicht überlaufen im Sommer,
auch wenn zu jenem Zeitpunkt alles schon langsamer ging –
Boutiquen, Restaurants, ein kleiner Weinhandel mit einer gestreiften Markise, einmal schlief eine Katze im Eingang;
es war kühl dort, im Schatten, und ich dachte,
wie gern ich wieder so schlafen würde, ohne einen einzigen
Gedanken im Kopf. Und später aßen wir Polpo und Saganaki,
während der Kellner Oreganoblätter in den Teller mit Öl schnitt –
Wie spät war es, sechs Uhr? So dass es, als wir aufbrachen, noch hell
und alles zu sehen war, wie es ist,
und dann stiegst du ins Auto –
Wohin gingst du im Anschluss an jene Tage,
wo du, wenn du auch nicht sprechen konntest, nicht verloren warst?

Louise Glück
Winterrezepte aus dem Kollektiv

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Uta Gosmann, zweisprachige Ausgabe Englisch/Deutsch

Luchterhand Literaturverlag, 80 Seiten, € 16,-

Die neuesten Gedichte der Literaturnobelpreisträgerin sind schnörkellos, reduziert und lassen einen doch nicht mehr los. Sie wenden sich an ein Individuum, schwellen an zu einem Chor und weisen auf das große Ganze, das Kollektiv. Lebensgeschichten sind in ihnen verborgen, Segen und Fluch des Alterns, die Kunst, einen Bonsai zu beschneiden, der Tod der Schwester, die Labsal der wärmenden Sonne, deren Helligkeit sich an den dunklen Schatten ermessen lässt, die sie wirft.

Louise Glück hat bisher dreizehn Gedichtbände und zwei Essaysammlungen veröffentlicht. 2020 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Glück erhielt u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize und den National Book Award. Sie lehrt an der Yale und der Stanford University und lebt in Cambridge, Massachusetts.

Empfohlen von Klaus Bittner

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