MAI
Es duftet schwer, nach falschem Jasmin:
die Nacht übertreibt mal wieder und hat
an uns willige Komplizen. Mehr Zitat
als Tat – dabei souffliert die Haut
streng nach Libretto. Und in dem
steht doch, steht doch! geschrieben,
dass die Liebe
beileibe
nicht weicht.
Aber wer kennt sich schon aus
mit dem Zustand von Stoffen
– außer die Physik.

Jung und Jung, 128 Seiten, € 22,-
„Small Talk“ heißt dieser Band mit Gedichten, und natürlich geht es darin auch ums Wetter. Aber sozusagen ums Wetter „über das Wetter hinaus“, wie es an einer Stelle heißt. Also um politische Wetterlagen, um Klimatisches, um Strömungen und Störungen, um das, was uns heute droht und morgen erwartet, kurz: um die Weltlage unserer Tage. Diese Gedichte sind freilich keine Nachrichten. Sie zählen nicht die Toten, sie messen nicht die Erdstöße, sie protokollieren nicht die Einschläge. Aber sie reagieren darauf, mit sprachlich feinen Sinnen für die Art, wie wir darauf reagieren. Empfindlich, aber nicht empfindsam, hellhörig und klar. Denn nicht anders als ihre Romane sind auch Dagmar Leupolds Gedichte eine Schule der Wahrnehmung. Mit einem wachen Blick für das Kleinste, denn es könnte trösten. Und mit einem bangen Blick in den Himmel nach besseren Aussichten. „Small Talk“ heißt dieser Band also nicht von ungefähr.
Dagmar Leupold, geboren 1955 in Niederlahnstein, Rheinland-Pfalz, studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York, lebt als Autorin und Übersetzerin in München. Ihr Werk umfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt Literaturpreis der Stadt München (2023). Für ihre Romane „Unter der Hand“ (2013), „Die Witwen“ (2016) und „Dagegen die Elefanten!“ (2022) war sie jeweils für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Gedicht: Seite 66
Empfohlen von: Klaus Bittner