Ein Mann fragte, wo das Gedicht wohl sitzt. Es war Nacht, ich hatte seit
Stunden nicht geschlafen. Ich saß aufrecht und schrieb. Wo
saß das ultimative, das beständigste Gedicht,
das ich jetzt wieder einmal aufschreiben sollte?

Er legte die Hand auf meine Brust, bewegte sie langsam
zum Herzen – ich musste laut lachen. Doch nicht dort, sage ich.
Da ist, was ablenkt: ein warmes Haus. Ein Garten
gesäumt von Blumen, eine Mutter,
die Torten backt und für immer bleibt.


Wo, fragte der Mann. Wo dann? Er berührte ungeduldig den Hals,
den Kopf, glitt mit den Fingern an meinen Ohren entlang, fuhr
mir durchs Haar. Ich schrieb, sagte nichts.


Das Gedicht sitzt da, wo du darauf wartest, berührt zu werden.
Verhungert dort.

Ester Naomi Perquin

Mehrfach abwesend

Zusammengestellt und aus dem Niederländischen übertragen von Stefan Wieczorek, Elif Verlag, 130 Seiten, € 20,-

Ester Naomi Perquin, geboren 1980, ist Dichterin und Essayistin, sie lebt in Rotterdam. Von 2017-2019 war sie Poet laureate der Niederlande, und sie erzeugt in ihren Gedichten Momente der Verblüffung und des Staunens. Scheinbar paradoxe Bilder und Kippfiguren schlagen um in plötzliches Erkennen, wenn ihre Gedichte Spielarten des Verschwindens oder das Leben in Gefängnissen erforschen; dabei greift sie auch auf ihre Erfahrungen als Schließerin in einer Haftanstalt zurück.

„Wenn Dichter eine Mission haben, dann am besten diejenige von Perquin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sichtbar zu machen, was im Dunklen liegt und meist auch verborgen bleibt. Und dies immer weiter zu versuchen, auch wenn man dabei an die Grenzen des Sichtbaren und der Sprache stößt. (…) Die Dichterin reicht dem Leser eine Hand, aber Vorsicht, sie lässt ihn auch bedenkenlos straucheln, wenn ihre Gedankengänge, die Worte dies erfordern.“ (Laudatio zum VSB-Poesiepreis)

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